WERNERS BLOG

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  Zeichnung: Wilhelm Busch


Mittwoch,
22. Dezember 2021
Die vergangene Woche hat mir einen Besuch in Mailand geschenkt. Wikipedia schreibt über die norditalienische Großstadt, sie sei "die führende Kultur-, Medien- und Modemetropole Italiens, eine Universitätsstadt und ein internationaler Finanzplatz als Sitz der Italienischen Börse".

Was der Artikel verständlicherweise nicht erwähnt, ist der Hang dieser Stadt zum Großsprecherischen, zur Übertreibung, zum Größenwahn bis hin zur Geschmacklosigkeit. Dass dies auch schon in früheren Zeiten der Fall gewesen ist, beweist auf eindrucksvolle Weise der Dom der Stadt, dessen Baubeginn auf das Jahr 1386 datiert wird. Neben der Tatsache, dass er eine der größten Kirchenbauten der Welt ist, stellt er zweifellos auch ein Meisterwerk des Konditorhandwerks dar.

Zunächst aber haben wir am Abend des 15. Dezember einen kulturellen Höhepunkt erlebt: die Aufführung von Verdis Opernfassung von Macbeth in einem der renommiertesten Opernhäuser der Welt, der Mailänder Scala. Eine moderne, sehr gelungene Inszenierung mit Anna Netrebko in der Rolle der Lady Macbeth.

  Macbeth im Teatro alla Scala:

Opernplakat Das Besucherpaar Bühne
Opernplakat Das Besucherpaar Bühne
   
 

Bilder vom Mailänder Dom:

Mailänder Dom (1) Mailänder Dom (3)
Der Mailänder Dom
   
 

Das Dach des Doms ist begehbar und bietet Aussicht auf die Stadt:

Blick vom Dach des Mailänder Doms (1) Blick vom Dach des Mailänder Doms (2) Blick vom Dach des Mailänder Doms (3)
Blicke vom Dach des Mailänder Doms
   
 

Die Stadt will groß(artig) erscheinen. Siehe auch Beispiele "prägnanter Architektur" in Wikipedia.

Bauliches Detail in der Innenstadt Galleria Vittorio Emanuele II Hausfassade
Bauliches Detail in der Innenstadt Galleria Vittorio Emanuele II Hausfassade
   
 

Liebenswertes in Mailand:

Straßenbahnwagen Typ Ventotto Schiffbarer Kanal Naviglio Grande Winkel bei den Navigli
Straßenbahnwagen Typ "Ventotto" Schiffbarer Kanal "Naviglio Grande" Winkel bei den Navigli
   
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Dienstag,
14. Dezember 2021
Bevor ich mich nach Italien in den Weihnachtsurlaub verabschiede, noch ein Eintrag aus den alten Tagebüchern. Einer, der ein recht offenes Bekenntnis darstellt.

Die alten Tagebücher (64)

10. September 1981



Wegen zu viel Rauchen und Saufen an den letzten beiden Tagen heute darnieder!

Kein Taxifahren, Gottseidank, zu krank dazu. Dazu gestern zu viel gefressen, meine Mutter hat ein Stück Schweiners mitgebracht, musste natürlich aufgegessen werden (war wohl auch so einen Fetzen Fleisch nicht mehr gewohnt). Jedenfalls hat mir heute alles mögliche weh getan: Kopf, Bronchien, Bauch, und ich bin wie eine schlaffe Leiche rumgeschlichen, sehr zu C.s Verdruss, die es gar nicht leiden kann, wenn ich mich so anstell, wie sie sagt.

Jedenfalls: Vormittag im Bett, Nachmittag in der Hängematte. C. ist abends nach München, zu Carolas Geburtstag, bin also jetzt allein und kämpfe gegen meine Lust nach einer Zigarette.

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Samstag,
4. Dezember 2021
Vor zwei Tagen berichteten mehrere Nachrichtenplattformen und auch der Deutschlandfunk, dass der Handelsverband Deutscher Einzelhandel (HDE) wegen der Coronamaßnahmen mit großen Einbußen im Weihnachtsgeschäft rechnet. Bei der landesweiten Einführung der 2G-Regel müsse man einen Umsatzrückgang um bis zu 50 Prozent befürchten. Dahinter stünden Tausende von Arbeitsplätzen und von selbständigen Existenzen, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbands.

Wenn die Menschen aber auf die Hälfte ihrer Einkäufe in der Weihnachtszeit verzichten, wird man wohl daraus schließen müssen, dass es sich bei dieser Hälfte um unnötige Einkäufe handelt. Und dass folglich die betroffenen Arbeitsplätze sich auf die Herstellung und den Vertrieb verzichtbarer Dinge stützen. Völlig überflüssiger Kram allem Anschein nach.

Da kommt mir der Begriff der Bullshit Jobs in den Sinn, den der verstorbene amerikanische Kulturanthropologe David Graeber geprägt hat: Wikipedia zitiert seine Position folgendermaßen:
"1930 sagte John Maynard Keynes voraus, dass die Technologie bis zum Ende des Jahrhunderts so weit fortgeschritten sein würde, dass Länder wie Großbritannien oder die Vereinigten Staaten eine 15-Stunden-Woche erreicht haben würden. Alles deutet darauf hin, dass er recht hatte. Technologisch gesehen sind wir hierzu in der Lage. Dennoch passierte dies nicht. Stattdessen wurde Technologie dafür eingesetzt, dass wir alle mehr arbeiten. Um dies zu erreichen, mussten Jobs geschaffen werden, die im Resultat sinnlos sind. Große Mengen an Menschen, insbesondere in Europa und Nordamerika, verbringen ihr gesamtes Arbeitsleben damit, Tätigkeiten auszuführen, von denen sie heimlich denken, dass sie eigentlich nicht getan werden müssten. Der moralische und spirituelle Schaden, der aus dieser Situation entsteht, ist schwerwiegend. Es ist eine Wunde in unserer kollektiven Seele. Doch praktisch niemand spricht hierüber."
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Donnerstag,
2. Dezember 2021
Zitate aus dem "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" von Fernando Pessoa

(Texte 29 und 33)



Ich war früh aufgestanden und ließ mir Zeit, mich für das Dasein zu rüsten.
(aus Text Nr. 29)
Während der ersten Tage des jäh anbrechenden Herbstes, wenn es wie vorzeitig dunkel wird und es scheint, als hätten wir länger als sonst für das, was wir bei Tage tun, gebraucht, genieße ich noch mitten in der Arbeit den Gedanken an das Nichtstun, den das Verschatten mit sich bringt, weil es dann dunkel ist und Dunkel Heim, Schlaf und Befreiung bedeutet.
(aus Text Nr. 33)
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Mittwoch,
17. November 2021
Corona, die Vierte (Welle): Wir müssen derzeit Tag für Tag die neuesten Wasserstandsmeldungen über uns ergehen lassen: wie viele neue Fälle das Land zu verzeichnen hat, wie viele Genesene, wie viele Verstorbene ("im Zusammenhang mit C.") registriert worden sind, wie hoch der Sieben-Tage-R-Wert oder die Sieben-Tage-Hospitalisierungsinzidenz ist, vor allem aber, wo die Sieben-Tage-Inzidenz im Land, im Bundesland oder im Landkreis liegt.

Dieser Wert ist es, der nach wie vor am häufigsten zitiert wird. Seine Bekanntgabe entwickelt sich derzeit geradezu zu einer Sportberichterstattung. Der DLF scheute sich gestern nicht, in den Nachrichten zu formulieren, der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sei Spitzenreiter bei der Sieben-Tages-Inzidenz!

Ich dachte, ich höre nicht recht. Soweit ist die tägliche Bewusstlosigkeit also auch schon bei den Profis des Wortes gediehen, dass man den Sportjargon auf die Ansteckungsquoten anwendet. Schneller, höher, weiter! Wer ist der Angesteckteste?

Leute, achtet auf eure Sprache!



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Samstag,
13. November 2021
Seit einiger Zeit beschäftige ich mich intensiv mit dem amerikanischen Dichter Robert Frost (1874–1963). In den USA wie auch der übrigen englischsprachigen Welt kennt ihn beinahe jedes Schulkind, während er in Deutschland recht unbekannt ist. Er wird gerne als Neuengland-Heimatdichter beschrieben (auch der deutsche Wikipedia-Artikel geht in diese Richtung*), dieses Etikett wird ihm aber bei weitem nicht gerecht.

Die Themen seiner Gedichte gehen weit über die Naturbeschreibungen hinaus, die sich zwar dort immer wieder finden, in allen Fällen aber nur Anlässe für tiefergehende Betrachtungen sind. Vielmehr ist das Wesen des Menschen sein Thema, sein Verhältnis zur Natur, zur Geschichte, zu Gott, sowie die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft. Frosts Gedichte befassen sich im weitesten Sinn mit der Conditio humana.

Ein Gedicht, Fire and Ice, habe ich schon einmal hier vorgestellt. Ein weiteres, sehr populäres (und sehr oft missverstandenes!) präsentiere ich heute. Weitere werden folgen.


The Road Not Taken

Two roads diverged in a yellow wood,
And sorry I could not travel both
And be one traveler, long I stood
And looked down one as far as I could
To where it bent in the undergrowth;

Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that, the passing there
Had worn them really about the same.

And both that morning equally lay
In leaves no step had trodden black.
Oh, I kept the first for another day!
Yet knowing how way leads to way,
I doubted if I should ever come back.

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.


Dazu zwei Übertragungen ins Deutsche:


Der Weg, den ich nicht ging

Ein Weg verzweigt im gelben Wald,
ich konnte leider nicht beide gehn,
da ich nur einer. Macht‘ lange halt,
schaut einen hinunter, bis er bald
dort abbog, wo Gestrüpp zu sehn.

Ich ging auf dem andern, der ihm glich,
vielleicht gebührt‘ das Recht ihm mehr.
Denn da war Gras, das wollte sich
betreten sehn. Doch sicherlich
war’n beide gleich, so ungefähr,

und beide gleich, zur Morgenzeit,
in Laub, vom Schritt nicht schwarz gedrückt.
O, sei mir der erste morgen bereit!
Wobei ich wusst‘, geführt so weit,
ist Zweifel, ob auch Rückkehr glückt.

Und irgendwo nach Tag und Jahr
sing ich mit Seufzern dieses Lied:
Ein Weg verzweigt im Wald, ich war –
auf dem, bereist zwar, doch mehr rar,
das macht den ganzen Unterschied.
(übertragen von Ingeborg Matschke)


Der nicht begangene Weg

Zwei Wege trennten sich im gelben Wald,
Wollt‘ beide gehen und lang ich stand,
Bin einer nur, so macht‘ ich Halt,
Schaut‘ einem nach, bis der sich bald
Dem Blick entzog, ins Unterholz verschwand.

Nahm dann den andern, grad so schön,
Vielleicht mit höherem Anspruch noch,
War er doch grün, wollt‘ Schritte seh‘n;
Obwohl, was das betrifft, so hat das Geh‘n
Sie gleichermaßen ausgetreten doch.

Ein Weg wie der andre an dem Morgen lag
Im Laub, von keinem Schritt getreten nieder.
Ich hob den ersten auf für einen andern Tag!
Obwohl ich weiß, wie Weg zu Weg führ‘n mag,
Ich zweifelte, ob jemals ich käm‘ wieder.

Mit einem Seufzer sag ich irgendwann
Wenn Ewigkeiten sind vollbracht:
Zwei Wege trennten sich im Wald, ich sann
Und nahm den weniger begang’nen dann,
Das hat den Unterschied gemacht.
(eigene Übertragung)

_____________

* nachträgliche Anmerkung, 18.5.22:

Die deutsche Wikipedia-Seite über Robert Frost hat Ingeborg (mit meiner bescheidenen Unterstützung) nun völlig neu verfasst. Ein Besuch lohnt sich.
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Mittwoch,
3. November 2021
Die alten Tagebücher (63)

26. August 1981

Stadt-Land-Überlegungen und Erfahrungen der ersten Gartensaison

(...)
In der Stadt verliert man das Gefühl für die Wettervorgänge im Jahreskreis. Insbesondere die Übergänge gehen einem verloren, die Nuancen. Ein kalter Tag, man dreht eben die Zentralheizung an und achtet nicht darauf, ob sich etwa mit diesem Tag das Ende einer Jahreszeit ankündigt. Hier ist es eindeutig festzustellen, ob ein kalter Tag im August beispielsweise nur eine Wetterlaune ist, oder ob er bereits ein Vorbote des Herbstes ist. Viele Anzeichen sind es, die über das bloße Sinken der Temperatur hinaus auf den tiefergehenden Wandel hindeuten: Da ist mehr und länger Tau auf den Pflanzen am Morgen, da ist Nebel auf den feuchten Wiesen, die Birken zeigen ihre ersten gelben Blätter, im Garten welken die Tomatenpflanzen, obwohl sie noch voll in der Frucht stehen, und von Tag zu Tag braucht die Sonne länger, bis sie bestimmte Teile des Gartens erreicht. Das Kartoffelgrün liegt am Boden, ebenso bei Zwiebeln und Knoblauch, die alle schon erntereif sind.

Wenn die Paprikapflanzen immer noch keine Früchte tragen, weißt du, dass es wohl nichts mehr werden wird. Auch die Roten Rüben werden kaum noch größer werden, du merkst dir diese Dinge fürs nächste Jahr, gibst ihnen dann vielleicht einen besseren Standort, säst früher und bereitest den Boden besser vor.
(...)

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Sonntag,
31. Oktober 2021
Literarische Perlen (10)



Oscar Wilde
Die meisten Leute sind andre Leute. Ihre Gedanken sind die Meinungen andrer, ihre Leidenschaften ein Zitat.121
121 Wilde, Oscar: De Profundis. Aufzeichnungen und Briefe aus dem Zuchthaus in Reading, dt. von M. Meyerfeld, Berliner Ausgabe 2016, S. 41
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Samstag,
30. Oktober 2021
Zitate aus dem "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" von Fernando Pessoa




Vielleicht ist es mein Schicksal, ewig Buchhalter zu bleiben, und Dichtung und Literatur sind nur ein Schmetterling, der sich auf meinen Kopf niedersetzt und mich umso lächerlicher erscheinen lässt, je größer seine Schönheit ist.
(aus Text Nr. 18)



Literatur, eine mit dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit, scheint mir das Ziel, dem alles menschliche Bestreben gelten sollte, wenn es denn wahrhaft menschlich und nicht allzu tierhaft wäre.
(aus Text Nr. 27)

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Mittwoch,
27. Oktober 2021
Von der Reise zurück. Von den wichtigsten Stationen ein paar Bilder:
  Finalborgo (Ligurien), 5.10.21    
 
Finalborgo/Ligurien Finalborgo/Ligurien Finalborgo/Ligurien
   
 

Hanbury Gardens (Ventimiglia/Ligurien), 6.10.21
   
 
Hanbury Gardens/Ventimiglia Hanbury Gardens/Ventimiglia Hanbury Gardens/Ventimiglia
   
 

Draguignan (Var/Provence), 7.10.21
   
 
Draguignan/Provence Draguignan/Provence Draguignan/Provence
   
 

Saint-Gilles (Gard/Okzitanien), 8.10.21
   
 
St-Gilles/Camargue St-Gilles/Camargue St-Gilles/Camargue
   
 

Bardou (Hérault/Okzitanien), 8. bis 15.10.21
   
 
Bardou (Doll's house) Bardou (Doll's house) Caroux-Gipfel
   
 

Olargues (Hérault/Okzitanien), 9.10.21
   
 
Olargues Olargues Olargues
   
 

Nîmes (Gard/Okzitanien), 16.10.21
   
 
Nîmes, Arena Nîmes, Maison carrée Nîmes, Maison carrée
   
       
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Sonntag,
3. Oktober 2021
Auch auf Reisen lässt mich die Literatur nicht los. Im Gegenteil, ich habe eine große Entdeckung gemacht: Fernando Pessoa (1888-1935), der mir bisher nur in Erwähnungen durch andere Schriftsteller und kurzen Zitaten begegnet ist. Wikipedia über ihn: Pessoa gilt neben Luís de Camões als bedeutendster Lyriker Portugals; er ist einer der wichtigsten Dichter in portugiesischer Sprache und gehört zu den bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts.

Sein Hauptwerk ist Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares.120 Das Buch ist eine Sammlung von Kurztexten, auch Aphorismen, die thematisch sämtliche Bereiche des Lebens umfassen. Sie sind durchnummeriert bis Nr. 481, gefolgt von einigen von ihm so genannten "Großen Texten". Pessoa selbst gab der Sammlung den Titel Autobiographie ohne Ereignisse.

Ich werde in lockerer Folge kurze Zitate aus dem Buch der Unruhe hier vorstellen, in Klammern jeweils die Nummer des Textes, aus der das Zitat stammt.


(...) Da ich also weder an Gott noch an eine Summe von Lebewesen glauben konnte, verblieb ich wie andere Außenseiter in jener Distanz zu allem, die man gemeinhin Dekadenz nennt. Dekadenz bedeutet den vollständigen Verlust der Unbewusstheit; denn die Unbewusstheit ist das Fundament des Lebens. Wenn das Herz denken könnte, stünde es still (...)

(aus Text Nr. 1)

Selbst wenn wir wissen, dass ein nie zustande kommendes Werk schlecht sein wird, ein nie begonnenes ist noch schlechter! Ein zustande gekommenes Werk ist zumindest entstanden. Kein Meisterwerk vielleicht, aber es existiert, wenn auch kümmerlich wie die Pflanze im einzigen Blumentopf meiner gebrechlichen Nachbarin. Diese Pflanze ist ihre Freude, und hin und wieder auch die meine. Was ist schreibe und als schlecht erkenne, kann dennoch die eine oder andere verwundete, traurige Seele für Augenblicke noch Schlechteres vergessen lassen. Ob es mir nun genügt oder nicht, es nützt auf irgendeine Art, und so ist das ganze Leben. (...)
(aus Text Nr. 14)


120 Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt am Main 2007. Das Original erschien 1982 (47 Jahre nach Pessoas Tod) unter dem Titel Livro Do Desassossego.
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Montag,
27. September 2021
Auch im Land, wo die Zitronen blühn (... die Myrte still und hoch der Lorbeer steht etc. etc.), in dem ich derzeit weile und an zwei Hochzeiten teilnehmen durfte (siehe rechts), habe ich den Wahlkampf verfolgt und sein Ergebnis zur Kenntnis genommen.

Man hat es ungefähr so kommen sehen, nach den (Baer-)Böcken, die die Grünen geschossen haben: aus der Traum von der grünen Kanzlerschaft, es bleibt bei der Juniorrolle der Partei. Eigentlich haben die Deutschen eine Fortsetzung der sogenannten großen Koalition gewählt, wenn man sich das Ergebnis ansieht: SPD und Union als die beiden stärksten Kräfte. Offenbar, weil es mit denen gar so schön war.

Was mich aber fast erbost, ist, wie die FDP schon am Tag nach der Wahl meint, mit ihren 11 Prozent bestimmen zu können, welche Koalition demnächst das Land regiert. Der Bundesvorstand der Partei habe beschlossen, so eine Meldung im DLF, "Vorsondierungen mit den Grünen über eine mögliche Regierungszusammenarbeit aufzunehmen."

Hallo? Seit wann gibt eine Elf-Prozent-Partei vor, wer mit wem welche Gespräche führt? Wenn, dann läuft es andersherum und die FDP sollte sich glücklich schätzen, wenn man mit ihr über das Regieren redet.

Italienische Hochzeit 1

Italienische Hochzeit 2
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Montag,
6. September 2021
Zwei Zahlen aus Meldungen vom vergangenen Wochenende möchte ich einander gegenüber stellen (Quelle: Deutschlandfunk):

Erstens: Am Samstag hatte ein Bündnis aus 350 Organisationen unter dem Namen "Unteilbar" zu einer großen Demonstration aufgerufen, um Themen ins Bewusstsein zu rufen, die unsere Gesellschaft fundamental berühren.

Zitat aus dem Aufruf: Die Krisen unserer Zeit verlangen dringend unser gemeinsames Einstehen für Solidarität: Für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und konsequentes Handeln gegen die Klimakrise.

Die Polizei, die große Demonstrationen stets begleitet, sprach von 10.000 Teilnehmern, die Veranstalter dagegen von etwa drei Mal so vielen. Die Wahrheit wird, wie meistens, irgendwo dazwischen liegen.


Zweitens: In Zandvoort (an der niederländischen Nordesseküste) fand am Sonntag ein Formel-I-Rennen statt, der Große Preis der Niederlande. Da fuhren ein Haufen 1000-PS-Autos stundenlang im Kreis herum, machten höllischen Lärm und verpulverten drei Tage lang eine Unmenge Sprit. Zuschauer: 75.000!

Unheilbar – Manchmal fragt man sich, ob die Menschen noch zu retten sind.

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Samstag,
4. September 2021
Vor dreieinhalb Wochen habe ich drei Tomaten gekauft, nach vielen Jahren der Abstinenz. Schöne große Fleischtomaten. Verleitet hatte mich dazu ein kurz zuvor beendeter Aufenthalt in Italien, dem Land, in dem Obst und Gemüse in bester und köstlichster Qualität überreichlich zu haben sind, darunter eben auch wunderbare Fleischtomaten. Daher habe ich es gewagt, in einem deutschen Supermarkt mir selbige zu kaufen. Schöne große Fleischtomaten. Meine Ansprüche hatte ich allerdings schon heruntergeschraubt, mit den italienischen würden sie wohl nicht mithalten können.
Wartet auf ihr Schicksal: deutsche Fleischtomate, schön, steinhart und geschmacklos
  Als ich die erste aufgeschnitten habe, hat sich der Verdacht bestätigt: Äußerlich zwar reif aussehend, innen aber steinhart ("schnittfest") und geschmacksfrei. Ich lasse die beiden anderen eben noch etwas liegen, dachte ich, dann reifen sie vielleicht nach.

Nach eine Woche habe ich mich an die zweite Tomate gewagt. Ergebnis: siehe oben, es gab keinen Unterschied zum ersten Mal. Nun habe ich noch das dritte und letzte Exemplar. Vermutlich ist seit der Ernte dieser Frucht mehr als ein Monat vergangen. Die Tomate liegt in meiner Küche und wartet auf ihr Schicksal. Äußerlich hat sie sich kein bisschen verändert: steinhart, immer noch Reife vorspiegelnd.

Was tun? Weiter liegen lassen? (wie lange? - in etwa einer Woche werde ich wieder in Italien sein). Der Agrarministerin an den Kopf werfen? (zu riskant, bei der Konsistenz der Frucht könnte eine ernsthafte Verletzung daraus resultieren). Essen??

Vielleicht werde ich zur Abstinenz zurückkehren und die Tomate unseren Hühnern spendieren.
  Wartet auf ihr Schicksal: deutsche Fleischtomate, schön, steinhart und geschmacklos
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Donnerstag,
2. September 2021
Mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist, so hört man es von allen Seiten, das Mittelalter zurückgekehrt: Die Scharia, die islamische Gesetzgebung, welche die Taliban nun erklärtermaßen einführen wollen, sieht für (nach unserem Verständnis) eher zweitrangige Vergehen drastische Strafen vor: Handabhacken für Diebe z.B., Steinigung für außereheliche Beziehungen usw. Mittelalter fürwahr.

Nun erreichen uns aus dem Land, das die Fackel der Freiheit und der Demokratie (wenigstens nach eigenem Verständnis) in die Welt tragen will (und dieses auch in Afghanistan – vergeblich – versucht hat), nämlich den USA, Nachrichten, die ebenfalls scheinbar aus dem Mittelalter zu stammen scheinen: der Staat Texas hat ein Gesetz verabschiedet, das Abtreibungen praktisch unmöglich macht, da es sie ab der 6. Schwangerschaftswoche kategorisch verbietet. Welche Frau aber weiß in der 6 Woche schon, dass sie schwanger ist? Allenfalls eine Minderheit. Vor allem die Umstände, wie dieses Gesetz umgesetzt werden soll, sind empörend und für ein modernes Land (für das sich die USA doch halten) beschämend. Und hier erlaube ich mir, aus einem ARD-Bericht von heute zu zitieren:
Was aber die Rechtslage in Texas so einzigartig macht, ist der Vollzug des Gesetzes – denn der liegt nicht bei den Behörden, sondern bei den Bürgerinnen und Bürgern. Sie sind aufgefordert, Ärztinnen und Ärzte, die Betreiber von Kliniken und ihr Personal anzeigen. Auch wer eine Frau zur Abtreibungsklinik fährt, muss mit Strafverfolgung rechnen – wegen Beihilfe. Kommt es zu einer Verurteilung, muss die beklagte Person oder Einrichtung mit 10.000 Dollar Strafe pro Fall rechnen. Für den Tippgeber gibt es mindestens 10.000 Dollar Belohnung.
An diesem Punkt bleibt einem die Spucke weg. 21. Jahrhundert? Derartiges gab es nicht einmal im Mittelalter.

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Montag,
30. August 2021

  Erste Sätze (34)


Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege (1951)

Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei sehr schönen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. September 1925 die Straßenbahn über dem Knie abgefahren), tauchte ein gewisser Doktor Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Krankenhaus seine Jahre machte.
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Mittwoch,
18. August 2021
Seit Tagen ringe ich um einen angemessen Beitrag zu aktuellen Ereignissen. Soll ich überhaupt etwas schreiben, wo doch schon so viele andere ständig die Stimme erheben? Und was ist vernünftig und angemessen?

Beispiel Afghanistan, das in diesen Tagen auch immer wieder mit dem Vietnamkrieg verglichen wird: Über die Beurteilung von dessen Beendigung vor 46 Jahren ist sich die Geschichtsschreibung bis heute nicht einig geworden (siehe u.a. Wikipedia). Der Krieg dauerte zwanzig Jahre, von 1955 bis 1975, und damit genauso lange, wie die militärische Präsenz der USA/Nato in Afghanistan, die derzeit dramatisch und chaotisch zu Ende geht. Was steht am Ende beider militärischer Abenteuer?

Vietnam: zwei bis vier Millionen getötete Vietnamesen, weitaus die meisten von ihnen Zivilisten und 58.000 getötete amerikanische Soldaten (Quelle: Wikipedia). Das Kriegsziel der USA, das Zurückdrängen (oder gar das Besiegen) des Kommunismus in Indochina, wurde nicht erreicht.

Afghanistan: 3.600 getötete Soldaten der von den USA geführten Koalition, über getötete Afghanen gibt es keine genauen Zahlen, die Schätzungen reichen bis etwa 200.000 (Soldaten und Zivilisten). Das Ziel der Koalition, Afghanistan nicht mehr zu einem Rückzugsort von Terroristen werden zu lassen, kann angesichts des Sieges der Taliban als gescheitert angesehen werden.

Aus beiden Kriegen gibt es unzählige Berichte über Kriegsverbrechen.

Der Einsatz in Afghanistan sei kein Krieg gewesen, hört man. Hier muss man an George W. Bush erinnern, der nach den Anschlägen des 11. September 2001 den War on terror ausrief.

Eine makabre Parallele gibt es für das Ende der beiden Kriegseinsätze. Saigon, 29. April 1975: die letzten Amerikaner verlassen die Stadt per Hubschrauber. Kabul, 15. August 2021: Wieder kreisen Hubschrauber, um Botschaftsangehörige und Soldaten auszufliegen. Rette sich, wer kann – Chaos damals wie heute.


 
Saigon, 29.04.1975 Kabul, 15.08.2021

Eines der berühmtesten Pressefotos des 20. Jahrhunderts: eine Schlange von Menschen auf einer behelfsmäßigen Treppe, die alle auf einen Platz im bereitstehenden Helikopter hoffen (Saigon, 29. April 1975). Quelle: NZZ, Foto: UPI/Imago
Ein Hubschrauber der USA vom Typ Chinook fliegt über der US-Botschaft in Kabul (15. August 2021). Quelle: Schwarzwälder Bote, Foto: dpa
   
 

Es sind Diskussionen entbrannt, wieso niemand in der Regierung (der US-Regierung ebenso wie der Bundesregierung) mit einem solchen Ende des Militäreinsatzes gerechnet hat. Diese Frage nach der Vorstellungskraft von Regierungen kann man sich auch in anderen Zusammenhängen stellen: wieso gibt es im zweiten Jahr der Pandemie keine ausreichende Vorsorge für Schulen, Kindergärten usw.? (Man hätte 2020 genügend Erfahrungen sammeln können) Oder: Wieso treffen uns Klimawandelfolgen wie die Flutkatastrophe derart unvorbereitet? (Der Club of Rome warnt – neben vielen anderen Stimmen – die Politik seit einem halben Jahrhundert).


   
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Sonntag,
8. August 2021
Die alten Tagebücher (62)

19. August 1981

Glückliche Zeiten im Häuschen im Moor

Tagesereignisse aufschreiben ist banal: Heu zusammenrechen, eine winterfeste Klappe für den Hühnerstall bauen, bügeln ... Viel lieber würde ich "Literatur" schreiben.

C. und ich hatten zwei ganze Tage und noch einen Abend ganz allein für uns, dieses seltene Glück geht natürlich viel zu schnell vorbei. Morgen geht's wieder zum Taxifahren, am Wochenende kommen die Schwedenmädels *, vielleicht auch erst am Montag, wahrscheinlich zusammen mit F., was nicht sooo erfreulich ist.

Es ist sehr schwer zu beschreiben, wie schön es hier ist, wie glücklich wir uns hier fühlen und wie gut es uns geht. Welche Freude es ist, uns aus unserem Garten zu ernähren, die Kartoffeln auszugraben, die Tomaten zu pflücken, die Gurken, die Bohnen, Zwiebeln und Gelbe Rüben zu ernten, Brokkoli, Spinat, Zucchini, Rote Rüben, Erbsen, Sellerie ...

Dazu die Freude mit unseren Hühnern, die Lebendigkeit unserer Katzen, die uns auch manchmal zuviel wird – Alles irgendwie banaler Alltag, und doch habe ich das Gefühl, dass das das wahre Leben ist.

Atoni ** war hier, er war begeistert davon, wie wir den Vorraum ausgebaut haben, wir sollen mit dem weiteren Ausbau (Dusche etc.) weiterhin nach eigenem Gutdünken vorgehen.


* Auf unserer Reise hatten wir anderthalb Jahre zuvor in einer Jugendherberge in Paphos (Zypern) zwei Schwedinnen kennengelernt.

** siehe unten
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Samstag,
7. August 2021
Zurück aus Italien, mit Dank an Ingeborg. Für alles.



Sacra di San Michele
      Die Sacra di San Michele in Piemont
  Was höre ich als eine der ersten Nachrichten hier im Land? Der Bund spendet alle Astrazeneca-Dosen an Entwicklungsländer. Klingt erst mal gut. Klingt nach Solidarität der reichen Länder mit den armen.

Doch Moment mal: Gab es nicht eine Debatte um die Nebenwirkungen dieses Impfstoffs? War da nicht etwas mit Thrombosen? Wollten sich nicht viele Menschen plötzlich nicht mehr damit impfen lassen?

Die Akzeptanz des Astrazeneca-Impfstoffs sank nach Bekanntwerden von sehr seltenen Sinusvenenthrombosen, wie der Spiegel bereits im Februar berichtete (ein Problem, für das der Postillon in bewärter Manier eine originelle Lösung präsentierte)

Ein Schelm, wer Arges dabei denkt.
   
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Samstag,
10. Juli 2021
Auf die Fresse, Herzblatt

Unter diesem aufreizenden Titel brachte die Süddeutsche Zeitung gestern einen schönen, langen Artikel von Hilmar Klute über achtsame Sprache. Wer die SZ liest, kennt und schätzt das tägliche Streiflicht auf der ersten Seite. Klute ist der dafür verantwortliche Redakteur.

Unter anderem zitiert der Autor aus dem Leitfaden für wertschätzende Kommunikation der Stadt Köln sowie aus einem Brief von Gottfried Benn aus dem Jahr 1938. Die Achtsamkeit und der heute tägliche Ruf nach ihr, schreibt Klute, ist das Symptom einer Gesellschaft, die unter ihrer watteweichen Konsenssprache einen steinharten Untergrund hat, auf dem immer neue Kulturkämpfe und identitätspolitische Landgewinnungsversuche stattfinden.

Der Artikel ist im Internet zwar hinter einer Paywall, ein kostenloses Probeabo ist aber möglich. Unbedingt lesen!

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Montag,
5. Juli 2021
Zwei Nachrichten picke ich aus den Meldungen von gestern und heute heraus, die mir symptomatisch erscheinen für den Zustand der Gesellschaft:

Erstens – die deutsche Sprache ist durch Corona schon wieder um ein Wort reicher geworden: Impfschwänzer (siehe auch meine Einträge zur Sprachbereicherung vom 8. bzw. 22. Februar dieses Jahres).

Schon sind die Hüter von Moral, Ordnung und Anstand auf dem Plan und fordern eine Bestrafung der Menschen, die ihre Impftermine einfach verfallen lassen (Meldung im DLF hier) Gewiss: so ein Verhalten ist unsozial und unsolidarisch und kaum zu rechtfertigen. Aber was würde durch eine Bestrafung besser werden? Wahrscheinlich würde die Impfbereitschaft, die allenthalben eingefordert wird, weiter nachlassen. Sinnvoller wäre es, die moralische Schludrigkeit der Mitmenschen einzukalkulieren und das Impfsystem von vornherein auf diese Fälle einzustellen. Zu glauben, dass alle Menschen immer vorbildlich und anständig handeln, ist naiv. Der Mensch ist gut, bloß d' Leut san schlecht, hat schon Karl Valentin gewusst.


Zweitens – Ich höre einen Radiobeitrag über den Literaturwissenschaftler Michael Sommer, der die Bibel mit Playmobil-Figuren nachgestellt hat, was man sich in 49 (!) Filmchen auf YouTube anschauen kann. Die Filmchen sind einerseits wirklich lustig, andererseits aber auch ein weiteres Beispiel für die Infantilisierung unserer Gesellschaft, die mir immer wieder auffällt. ( 30.4.17, 14.6.17, 25.8.18)

Ach und noch etwas: finanziert hat das Projekt die Evangelische Kirche.

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Samstag,
26. Juni 2021
Zwei Mordanschläge mit Toten und Verletzten sind zu vermelden, ein Angriff in Mali, einer in Würzburg. Und wieder führen Politiker ein Wort im Mund, das längst wie automatisch in solchen Zusammenhängen gebraucht wird: das Wort von der Feigheit. Nicht erst seit den Anschlägen vom 11. September 2001 oder dem Überfall auf die französische Zeitschrift Charlie Hebdo nennt man Attentäter und spektakuläre Mordanschläge regelmäßig "feige".

Aber: Wer solche mörderischen Angriffe ausführt, mag verbrecherisch, hinterhältig, grausam, unmenschlich usw. sein, eines sind Täter dieser Art sicher nicht: feige. In der Regel nehmen sie ihren eigenen Tod in Kauf, mindestens aber lange Haftstrafen. Warum also nennt man die Täter oder die Tat feige?

Es scheint, als könnte diese Benennung schon eine Art Bestrafung darstellen, wie ein hilfloser Reflex zum Zurückschlagen, schließlich ist man als Politiker am laufenden Band gezwungen, sich zu aktuellen Ereignissen schnell und ohne wirklich nachzudenken zu äußern. Wie gut, dass man stets Worthülsen parat hat, ob sie passen oder nicht.



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Freitag,
25. Juni 2021
Literarische Perlen (9)



Thomas Hobbes
Wenn auch der Mensch geneigt ist, einem anderen in der Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit den Vorzug vor sich selbst zuzugestehen, so wird er doch nicht einräumen wollen, dass jemand klüger sei als er. Jeder sieht seinen eigenen Verstand gleichsam aus der Nähe, den eines andern aber aus der Ferne an. Übrigens gibt die Zufriedenheit eines jeden mit seinem Verstande für die gleichmäßige Verteilung der Verstandeskräfte den besten Beweis.119
119 Hobbes, Thomas: Leviathan [1651], übersetzt von Jacob Peter Mayer (1938), Ditzingen 2019, S. 113.
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Mittwoch,
16. Juni 2021
Literarische Perlen (8)

Virginia Woolf

(Flush ist der Spaniel des Dichterpaares Elizabeth Barrett und Robert Browning – man ist gemeinsam auf Reisen in Italien)
Doch um aufrichtig zu sein, nicht um Bilder anzustarren, in dunkle Kirchen einzudringen und zu schwach erkennbaren Fresken emporzublicken, sprang Flush davon, wenn die Tür der Casa Guidi offengelassen worden war. Er wollte etwas genießen, etwas suchen, das ihm all die Jahre vorenthalten worden war. Einst hatte das Jagdhorn der Venus seine wilde Musik über die Felder von Berkshire geblasen; er hatte die Hündin von Mr Partridge geliebt; sie hatte ihm einen Nachkommen geboren. Jetzt hörte er dieselbe Stimme durch die engen Straßen von Florenz schmettern, doch herrischer, gebieterischer noch nach all den Jahren der Stummheit. Jetzt lernte Flush das kennen, was die Menschen niemals kennenlernen können – reine Liebe, schlichte Liebe, uneingeschränkte Liebe; Liebe, die nicht die Sorge im Kielwasser nach sich schleppt; die keine Scham kennt; keine Reue; die eben noch hier ist und dann auf und davon, wie die Biene auf der Blume eben noch hier und dann auf und davon ist. Heute ist die Blume eine Rose, morgen eine Lilie; jetzt ist sie die wilde Distel auf der Heide, jetzt die gebauschte, hochnäsige Orchidee des Gewächshauses. So wahllos, so sorglos umarmte Flush den gefleckten Spaniel unten am Ende des Gäßchens und die gestreifte Hündin und die gelbe Hündin – ganz gleich, welche es gerade war. Für Flush war das ein und dasselbe. Er folgte dem Horn, wo immer es blies und der Wind den Klang herwehte. Die Liebe war alles; die Liebe war genug. 118
118 Woolf, Virginia.: Flush, Frankfurt am Main 1994, S. 81.
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Samstag,
12. Juni 2021
Die alten Tagebücher (61)

15. August 1981

Das neue Leben im einsam gelegenen kleinen Holzhäuschen im Moor hat unvorhergesehene Auswirkungen auf die Freunde in München und Umgebung: Wir sind gerade einmal eine Autostunde von den meisten entfernt – eine attraktive Entfernung für einen Nachmittagsbesuch, angemeldet oder auch unangemeldet. Die beiden freuen sich doch sicher, wenn wir sie mal in ihrer Einsamkeit besuchen ...


Zuwenig Zeit für uns allein zu haben, ist leider ein Dauerzustand. Habe leider F. am Telefon kein genügend deutliches Besuchsverbot erteilt, C. hat gestern versucht, ihm klarzumachen, es sei besser, er komme morgen nicht. Schauen, was passiert.

A.* hat sich für morgen angesagt. Er ist kein Besuch im üblichen Sinne, für uns wird einiges leichter werden, wenn wir mit ihm über den weiteren Ausbau hier gesprochen haben.

Wenn wir eines Tages ganz, ganz weit weg ziehen werden, dann haben nicht zuletzt die lieben Freunde und ihre rege Besuchstätigkeit ihren Anteil daran. Allerdings: Je weiter weg, desto länger bleiben eventuelle Besucher natürlich. G.** schrieb in ihrem letzten Brief, dass ihre Mutter drei Monate bei ihr gewesen sei und dass sie dabei halb verrückt geworden sei.

Einzige Ausnahme unter den Besuchern sind stets H., D. und N. Sie gehen uns nie auf die Nerven, ein späteres Zusammenwohnen ist auch immer wieder mal im Gespräch.


* A. = Vermieter des Häuschens, in dem wir von 1980 bis 1986 gewohnt haben.
** G. = Freundin und Lehrerkollegin, die nach Australien ausgewandert ist.
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Donnerstag,
20. Mai 2021
Gedanken zum Brennglas

Die Inzidenzzahlen sinken, die Hotels und Gaststätten öffnen wieder (für getestete, genesene, geimpfte und auf jeden Fall maskierte Gäste, versteht sich), ein Lichtschein von Normalität zeichnet sich am Ende des Tunnels ab. Bekommen wir nun unser altes Leben zurück, wird also alles wieder gut?

Immer wieder hat man Stimmen gehört, die Pandemie habe "wie mit einem Brennglas" die Schwachpunkte in unserer Gesellschaft erkennen lassen, sie habe die Schere zwischen den Unter- und Überprivilegierten weiter geöffnet, andererseits aber auch gezeigt, wozu Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft etc. in der Lage sind, wenn es mal drauf ankommt. Wie alle Krisen enthalte auch die Pandemie große Chancen zu Veränderung, Entwicklung und Erneuerung.

Das Bild vom Brennglas bietet zweierlei Aspekte: einmal das Vergrößerungsglas, das uns Missstände besser erkennen lässt um dann hoffentlich – endlich – auch ihre Beseitigung in Angriff zu nehmen, und andererseits das Entzünden und Verbrennen vertrockneter Rückstände, von denen es mehr als genug gibt. Chancen, wenn sie sich darbieten, müssen auch ergriffen werden. Von selber wird nichts besser.

Vielleicht trifft es sich gut, dass in ein paar Monaten Bundestagswahlen stattfinden. Drei Politiker*innen stellen sich für das Amt des Bundeskanzlers zur Wahl. Ich sehe zwei, die für die alte Gesellschaft stehen, und eine, die auf Neues hoffen lässt. Aber die gegenwärtige Lage verlangt von uns allen, Chancen zu ergreifen, nicht nur von Seiten der Politik. Wir alle sollten uns überlegen, was wir in Zukunft von unserem alten Leben nicht mehr haben wollen. Nutzen wir das Brennglas.



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Sonntag,
02. Mai 2021

  Erste Sätze (33)


Markus Werner, Zündels Abgang (1984)

Schöne Kindheit im Warenhaus. Abhanden gekommen das einzig Vertraute, untergetaucht in neonhellen Schluchten. Der Kleine, in Tränen aufgelöst und ohne Fassung wimmernd: Mama, Mama. - Wie immer viel Helferwille, Ersatzhände, vom Kinde abgeschüttelt, es rennt umher und schreit. Wird irgendwo hinter bunten Kulissen erhört: Da kommt sie, die Mama, das Kind ihr entgegen mit erhitztem Gesichtlein, verweint, doch erlöst, und sie lässt sich nieder vor ihm, breitet die Arme aus und schlägt zu, links rechts, links rechts und zischt und schmäht.
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Samstag,
1. Mai 2021
Die alten Tagebücher (60)

26. Juli 1981

B.W.* wohnt, lese ich, immer noch in Ostberlin, hat nur ein dreijähriges Dauervisum für den Westen, mein Brief an sie kann also geschrieben werden, auf ihrem Brief an mich vor zwei Jahren war ja ihre Adresse drauf: Leipziger Str. 55. (...)

7. August 1981
(...) Mich krankenzuversichern war eine Arie: Ich habe ja zu Alex gewechselt um versichert zu sein, er wollte einen regelmäßigen Fahrer haben und ich wollte versichert sein.

Er ging also zur AOK und wurde dort gleich unverschämt angemacht. Ein Fahrer, der nur 500,- Mark (offiziell) verdient, ist suspekt. "Der soll 5 Tage in der Woche arbeiten wie wir auch, ... der will ja bloß eine billige Krankenversicherung", etc.

DAK war freundlich, nimmt aber keine Taxifahrer, denn ein Taxifahrer ist Arbeiter, muss also zur AOK.

Sitzung bei Renner, Privatversicherung abgeschlossen, trete als "Selbständiger" auf, was mir persönlich die sympathischste Lösung ist. Habe dann zwar keinen Anspruch auf Rente oder Arbeitslosengeld, aber das ist mir ziemlich wurscht.

Mehr über den Abschluss meiner Krankenversicherung beruhigt als ich ist meine Mutter. Ich selbst könnte – glaube ich – wohl ohne Ärzte leben. "Aber was ist, wenn du einen Unfall hast ... bla bla ..." In den letzten 25 Jahren kam ich ganz gut ohne ärztliche Hilfe zurecht, abgesehen von den zehn Monaten meiner Lehrerexistenz, wo die "Grippe" oder "Magenverstimmung" einfach existenziell notwendig war.

Momentan geht's mir jedenfalls wieder hervorragend, und ich weiß auch, dass das ein Dauerzustand ist. Wir sind beide glücklich hier miteinander im vollen heißen Hochsommer (die zweieinhalb Wochen Dauerregen sind schon wieder vergessen).


* Bettina Wegner, s.u. und Eintrag vom 22.10.2016

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Montag,
26. April 2021
Wovor haben die Menschen in diesen Zeiten am meisten Angst? Vor Corona? Vor dem Klimawandel? Das würde naheliegen. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI belehrt uns heute, dass es etwas gibt, wovor die Menschen noch viel mehr Angst haben: ihre Mitmenschen. In den Nachrichten konnte man heute hören, dass die Militärausgaben in aller Welt um 2,6 Prozent gestiegen sind und mit knapp zwei Billionen Dollar im Jahr 2020 einen neuen Höchststand erreicht haben. Spitzenreiter sind demnach wieder die USA mit knapp 780 Milliarden Dollar. Aber auch Deutschland darf sich mit etwa 53 Milliarden Dollar sehen lassen, was eine Steigerung um 5,2 Prozent bedeutet.

Ich lese gerade einen Klassiker der amerikanischen Literatur aus dem Jahr 1960 wieder: Wer die Nachtigall stört (To Kill a Mockingbird) von Harper Lee. Da stellt sich der zwölfjährige Jem, Bruder der achtjährigen Ich-Erzählerin Jean Louise, die Frage:
Wenn es nur eine Art von Menschen gibt, warum können sie dann nicht miteinander auskommen? Wenn sie alle gleich sind, warum haben sie dann nichts anderes im Kopf als sich gegenseitig zu verabscheuen?
Weil sie unendliche Angst voreinander haben, könnte man antworten.

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Freitag,
16. April 2021
Gelegentlich sind Politiker doch noch in der Lage, das Volk in Staunen zu versetzen. Ich rede nicht vom gerade stattfindenden Duell der beiden Kanzlerkandidat-Kandidaten, sondern von einer Äußerung des CDU-Politikers Friedrich Merz (der selber gerne CDU-Vorsitzender und K-Kandidat geworden wäre). In einem Dlf-Interview sagte er dieser Tage: "Wir sind noch ganze drei Prozentpunkte von einer Bundeskanzlerin Annalena Baerbock entfernt. Wir drei runter, die Grünen drei hoch – dann ist die Bundestagswahl 2021 gelaufen."

Gerade in der Politik kann man immer wieder erleben, dass man gewisse Ereignisse und Situationen mehr oder weniger herbeireden kann. Für diesen Fall heißt das, dass manche/r Grünen-Sympathisant/in, der/die bei der Wahl vielleicht zuhause bleiben wollte, sich bei diesen Worten überlegt doch hinzugehen, wenn das Ziel einer grünen Kanzlerschaft tatsächlich so greifbar nahe sein sollte. Ich würde sagen, wir schulden Friedrich Merz großen Dank.

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Sonntag,
11. April 2021
Ich habe schon einmal auf den wöchentlichen Newsletter des SZ-Journalisten Heribert Prantl hingewiesen: "Prantls Blick". Ich wiederhole die Empfehlung, hier geht es zu der politischen Wochenvorschau. Thema heute: der bundesdeutsche Föderalismus, der gerade keine gute Figur macht.

Die Empfehlung verbinde ich mit einem Hinweis auf einen Gastauftritt Prantls in der Interview-Sendung Leute des Senders SWR1 vom Februar. Dort geht es um die Einschränkung der Freiheitsrechte im Zug der Coronamaßnahmen.

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Freitag,
9. April 2021
Dieser Winter ist vorbei. Vielleicht – hier im Schwarzwald weiß man nie. Wir haben in den letzten Wochen ein ständiges Auf und Ab erlebt.

Zur Erinnerung Blicke aus dem morgendlichen Schlafzimmer:



1. Dezember: Schnee auf den Frühbeeten
      1. Dezember: Schnee auf den Frühbeeten
 
10. Dezember 16. Januar 29. Januar
10. Dezember 16. Januar 29. Januar
   
 
8. Februar 17. März 19. März
8. Februar 17. März 19. März
   
 
6. April 7. April 8. April
6. April 7. April 8. April
   
 
Das Frühlingswetter Ende Februar, das uns alle zur Gartenarbeit verführt hat, habe ich leider versäumt zu fotografieren.

Und wenn man dem Wetterbericht glauben darf, geht das Auf und Ab weiter.
   
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Freitag,
26. März 2021
Und noch ein Corona-Splitter:

Die Deutschen, und insbesondere ihr Führungspersonal, gleichen derzeit einem Hühnerhaufen. Erst wird eine Osterruhe verordnet, dann wieder zurückgenommen, einzelne Bundesländer erklären sich zur Modellregion (Saarland), andere appellieren an die Eigenverantwortung der Bürger, die ihnen gerade massiv von der Fahne gehen (Sachsen). Dazu tönen die wieder schriller werdenden Kassandrarufe der Virologen. Dazwischen das "Volk": Den einen gehen die Einschränkenn zu weit, den anderen nicht weit genug.

Nicht dass ich zur Zeit Politiker sein möchte (auch sonst nicht), aber eine Frage stelle ich mir schon (und im Radio hat sie heute der Moderator der Informationen am Mittag im DLF der Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt, Cornelia Betsch, gestellt): Wieso fällt den politisch Handelnden proaktives Handeln so schwer? (Das Wort definiert der Duden als "durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung eines Geschehens selbst bestimmend und eine Situation herbeiführend")

Die Professorin verwies u.a. auf die Situation der Politiker, auf anstehende Wahlen etwa, und musste offen zugeben, dass sie keine gute Antwort darauf habe.

Im meinem letzten Beitrag habe ich auf die Systemimmanenz der individuellen Gier verwiesen. Ich vermute, dass auch dieses Hühnerhofverhalten der Politiker in gewisser Weise systemimmanent ist. Sie sind (außerhalb von Katastrophenzeiten) es nicht gewohnt, vorausschauend (d.h. weiter als bis zu den nächsten Wahlen schauend) zu handeln. Erst wenn eine Tendenz in der Bevölkerung eine gewisse Stärke und Relevanz erreicht, sie sich also auf das Wahlverhalten auswirken könnte, werden sie wach. So sind sie dazu verurteilt, Strömungen im Volk hinterherzulaufen. Politik setzt keine Trends, sie wartet darauf, dass sie ihr angeboten werden.

Ein solches Verhalten aber ist in der Pandemie unangebracht. Und da ein vorausschauendes Führungsverhalten nicht eingeübt ist, beherrscht man es auch nicht. Daher das Bild des Hühnerhaufens.

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Sonntag,
14. März 2021
Noch ein Wort zur sogenannten Maskenaffäre, die darin besteht, dass Abgeordnete von CDU und CSU sich für die Vermittlung von Geschäften mit Coronamasken Provisionen in erstaunlicher Höhe haben zahlen lassen. Von bis zu 600.000,- Euro ist die Rede. Von den Funktionsträgern aller Parteien bis zum Bundespräsidenten hört man interessanterweise nichts als Abscheu ob soviel unmoralischer Raffgier. Und selbstverständlich, so beteuern die betroffenen Parteien, handelt es sich nicht um ein strukturelles Problem der Union.

Man kann das verstehen: wieso soll ein bestimmtes Verhalten ein strukturelles Problem einer Partei darstellen, wenn es doch unserer Gesellschaft immanent ist: Von klein auf wird die individuelle Gier trainiert: Hast du was, bist du was, hieß es seit jeher und wird es bei uns immer heißen. Die Bedeutung des Einzelnen wird an seinem Bankkonto ermessen. Die Habsucht ist somit eine gesellschaftlich erwünschte und geförderte Eigenschaft. Dass unter diesen Umständen einer gern mal sechshunderttausend Euro für ein paar vermittelnde Telefongespräche oder E-Mails mitnimmt und dabei kein schlechtes Gewissen entwickelt, sollte nicht verwundern. Schließlich ist dieses Verhalten zutiefst systemkonform und wird – solange es mit Diskretion ausgeübt wird – weithin toleriert. Erst wenn Spielverderber die Gier ins allzu grelle öffentliche Licht zerren, merkt man auf, und schnell ist der Begriff der Neiddebatte zur Hand.

Nun haben Abgeordnete der Union Pech gehabt: ihr Verhalten stößt auf eine den Umständen geschuldete Empfindlichkeit in der Bevölkerung. Als Konsequenz mussten die Unionsabgeordneten auf Geheiß ihrer Parteien eine Ehrenerklärung abgeben, in der sie bestätigen, dass sie "keine finanziellen Vorteile aus pandemiebezogenen Geschäften gezogen hätten". (Daran wird der eine oder die andere noch zu knabbern haben und froh sein, dass er/sie die Erklärung nicht unter Eid abgeben musste.) Des Weiteren sollen künftig die Nebenverdienste der Bundestagsabgeordneten veröffentlicht werden. Dass ein solches Mandat ein Vollzeitjob ist (und ein nicht allzu schlecht bezahlter), hört man zwar gelegentlich in diesem Zusammenhang, aber was soll man machen: das Geschäft muss ja weiterlaufen, je einträglicher, desto besser, nicht wahr.

So sollen also Nebeneinkünfte, die dem/der Abgeordneten mehr als 100.000,- € im Jahr einbringen, angegeben werden. Auf Cent und Euro. Achtzig- oder neunzigtausend im Jahr, soll das heißen, sind Peanuts, die gerne nebenbei in die Tasche gesteckt werden können. Ob das Pflegekräften, die ständig am Rand ihrer Kraft arbeiten und von solchen "Nebeneinkünften" nur träumen können, vermittelbar ist? Viele von ihnen halten derzeit noch aus Solidarität durch, wie der DLF kürzlich unter Berufung auf den Weltbund der Krankenschwestern und Pfleger meldete. Sobald die Lage sich etwas entspannt haben wird, werden viele von ihnen den Job hinwerfen. Auch das ist vielleicht ein Nebeneffekt der Nebeneinkünfte.



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Sonntag,
7. März 2021
Die alten Tagebücher (59)

21. Juli 1981



Das Tagebuch setzt Staub an. Wenn man mit einem anderen Menschen zusammenlebt, hat man einen direkteren Reflektor seiner Gedanken als das Papier.

(...)

Ein Leben, wie ich es zur Zeit führe, müsste eigentlich zum Schreiben herausfordern. Ein Minimum an Erwerbsarbeit (2 Nächte pro Woche), dazu die Arbeit im Garten und von Fall zu Fall am Haus. Viel, viel sogenannte Freizeit. Warum also nicht schreiben?

Nein, keine Zeit. Das gemeinsame Leben mit C. muss und will gelebt werden, ich habe immer noch das Gefühl, dass wir zuwenig Zeit füreinander haben. Und wenn ich allein bin: Da kommt erstmal das Genießen, der Genuss des Hauses, des Gartens, des eigenen Seins, da muss ich werkeln, essen und trinken, radiohören (auch wenn's nur Bayern 3 ist), Süddeutsche lesen (momentan schickt mir meine Mutter ihr Abonnement für 4 Urlaubswochen, und, wenn wirklich ein ganzer Abend übrig sein sollte, wie heute, ein paar Zeilen ins Tagebuch.

Wieder Gedanken an Bettina Wegner. Wenn ich ihre westdeutsche Adresse hätte, würde ich ihr auf der Stelle wieder schreiben. Im Herbst ist in München ein Konzert mit ihr, das ich gerne besuchen möchte.

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Montag,
22. Februar 2021
Es gibt offenbar noch andere, die die von der Pandemie verursachte Sprachbereicherung ( s.u.) bemerken. Der Deutschlandfunk berichtet, dass das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache seit März 2020 etwa 1200 neue bzw. umgedeutete Wörter im Zusammenhang mit Corona gesammelt hat. Als Beispiele werden genannt: "Geisterspiel", "Distanzunterricht", "Covidiot", "Maskenmuffel" und "Corona-Matte" (Haarschnitt, der sich durch länger nicht stattgefundenen Friseurbesuch ergibt).

Und einen schönen Satz habe ich heute noch vom Israelkorrespondenten des Senders vernommen. Er formulierte, man wolle dort eine Herdenimmunität herbei impfen.

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Sonntag,
21. Februar 2021
Die alten Tagebücher (58)

8. Juni 1981

Das neue Leben auf dem Land rückt den Abstand zum früheren Leben in der Stadt (und die weiter bestehende Abhängigkeit von ihr) in den Blick.

Kann den Eintrag von gestern – nach dem Taxifahren – nicht durchlesen. Das ödet mich furchtbar an. Das Taxifahren ist kein Leben, jedenfalls kein interessantes. Es ist – relative bequeme – Existenzsicherung, sonst nichts außer Zeitverschwendung.

Heute auch "Zeit verschwendet". Ich muss das in Anführungszeichen setzen, denn ein fauler Tag mit Nichts-Tun ist ja nur in bürgerlichem Bewusstsein eine Verschwendung. Aber wie soll jemand wie ich mit meiner bürgerlichen Erziehung sich da jemals völlig frei von Schuldgefühlen machen, wenn er einfach nichts tut. Nichts.

Was habe ich schon Zeit "verschwendet"!

Erinnerung an manche Sams- und Sonntage in der Georgenstraße: Heißer Sommer, Aufstehen gegen Mittag, raus zur Dusche tappen, langsam das Chaos bekämpfen, im Zimmer und das größere im Kopf, dann die vier Treppen runter und durch die sonnigen, sonntäglich-trägen, ekelhaften Sonntagsstraßen in Richtung Euroasia (einer der größten Verluste für München, dass diese Kneipe vor ca. 2 Jahren zugemacht hat!). Dort ein Sojavan oder eine Nr. 13 (Nudelsuppe mit viel Hühnerfleisch) mit größtem Lustgefühl gegessen. Wirklich ein Höhepunkt. Auch das Stammgasterlebnis (3 oder 4 Weihnachten hat man mir dort etwas geschenkt). Und die hübschen thailändischen Wirtstöchter.

Und dieses unvergleichliche Sojavan: Gegrilltes Wammerl, dazu ein gebratenes Hühnerbein auf Reis mit etwas gekochtem Kraut und einer dünnen Suppe zuvor. Der Preis war zum Schluss glaube ich 4,50 oder 5,- Mark (von 3,30 oder so angefangen, als ich 1972 das Euroasia entdeckte). Dann wieder raus und schon auf der Straße vor der Kneipe war der Tag (für den Moment wenigstens) wieder gelaufen. Was tun?

Zurücklaufen in der ruhigen Sonne, eine der vielen Varianten, die zwischen Heß-/Schleißheimerstraße und Georgenstraße 58 möglich sind. Die angenehmsten führten durch den alten kleinen Nordfriedhof und den angrenzenden Spielplatz.

Und wieder die vier Treppen rauf, heiß ist es da unter dem Dach. Gleich wieder die Klamotten runter und in der Unterhose oder ganz nackt aufs Bett und den Tag fragen, was man machen soll. Lesen oder sowas. Für den Abend waren sicher irgendwelche Verabredungen in Kneipen getroffen, bis dahin die Leere.

Samstag-Sonntagnachmittag in einem Dachzimmer in der heißen sommerlichen Stadt.


Dazu als Ergänzung ein Blick in das Tagebuch des Jahres 2020, 39 Jahre später. Unter dem Datum des 19. Januar steht da:

Stiller trüber Sonntagmorgen (alle meine Morgen sind zum Glück still, nicht alle trüb, Sonntage aber haben immer etwas Stilltrübes).


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Sonntag,
14. Februar 2021
Mein regelmäßiger Spazierweg führt mich an unserem Bach entlang, der den wenig romantischen Namen Stampfbach führt. Umso poetischer aber sind die Bilder, die der Bach im Verein mit scharfem Frost in der Nacht und tauendem Sonnenschein am Tag dem Spaziergänger schenkt.



Stampfbach, 14. Februar 2021
 
Stampfbach, 14. Februar 2021 Stampfbach, 14. Februar 2021 Stampfbach, 14. Februar 2021
   
 
Stampfbach, 14. Februar 2021 Stampfbach, 14. Februar 2021 Stampfbach, 14. Februar 2021
   
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Montag,
8. Februar 2021
Die Pandemie hat eine Menge kreativer Aspekte, unter anderem eine ungeahnte Bereicherung der Sprache. Was haben wir nicht alles für Zusammensetzungen mit ihrem Namen (den wir alle nicht mehr hören können) erfahren dürfen: Coronakrise, Coronaregeln, Corona-Verschwörungstheorien, Coronaschutzverordnung, Corona-Warn-App, Coronaleugner ...

Seit es Impfstoffe gegen C. gibt, sind auch hier neue Verbindungen im Umlauf: Impfverordnung, Impfreihenfolge, Impfgipfel, Großbritannien hat einen Impfstaatssekretär ...

Auch Wörter wie Sieben-Tage-Inzidenz sind eine bislang nicht in Erscheinung getretene Kombination und Lockdown wurde der Anglizismus des Jahres 2020.

Meine absoluten Lieblingsfundstücke aber sind (bisher):

Durchimpfungsrate (hier gefunden)

und vor allem:

aerosolgenerierend bzw. Aerosol generierend (hier gefunden)

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Donnerstag,
4. Februar 2021
Man mag den Streit nicht mehr hören: War vor einem halben Jahr die Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 noch eine Sache von vielen Jahren, wird jetzt, da es in einer beispiellosen Anstrengung gelungen ist, (hoffentlich) taugliche Vakzine anzubieten, das Geschimpfe und Gezerre um einen Platz an der Spritze ständig schriller:

Warum hat die EU so wenig bestellt, wieso kriegen die Engländer mehr als wir, warum geht das alles so langsam, wer darf als erster und so weiter und so fort. Den Vogel schießt gerade die Deutsche Stiftung Patientenschutz ab (deren Arbeit ich bisher als nützlich und wertvoll angesehen habe): Wie der DLF heute berichtet, zog der Stiftungsvorstand Eugen Brysch in einem Interview mit dpa gegen "Vordrängler" zu Felde und forderte, "bezahlte und unberechtigte Verimpfung" solle mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe belegt werden. Allmählich drehen sie alle durch.

Weiter hieß es in dem Bericht, angesichts des knappen Impfstoffs gelte eine strenge Reihenfolge. Die über 80-Jährigen und die Menschen in Pflegeheimen erhalten den Schutz vorrangig, weil das Todesrisiko bei Covid-19 bei den Hochbetagten am größten sei. Die Ironie, die in diesem letzten Satz liegt, ist offenbar keinem aufgefallen. Zwar gehöre ich mit meinen 73 Jahren noch nicht ganz zu den Hochbetagten, über mein mit fortschreitendem Alter immer weiter zunehmendes Todesrisiko aber mache ich mir keine Illusionen. Mit Covid-19 hat das weniger zu tun, eher mit Statistik.



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Samstag,
23. Januar 2021
Ich bin kein Verschwörungstheoretiker. Habe auch nicht vor einer zu werden und will mit ihnen auch nicht in einen Topf geworfen werden. Z.B. halte ich Behauptungen, die großen Konzerne (wahlweise Bill Gates, die internationale jüdische Hochfinanz, die Mainstream-Medien, das Weltwirtschaftsforum, die Bilderberger etc.) für gefährlichen z.T. volksverhetzenden Blödsinn.

ABER:

Was ich heute morgen im Radio höre, verstört mich doch, wie ich zugeben muss. Demnach regt der Deutschland-Chef des Vodafone-Konzerns, Hannes Ametsreiter, an, die Daten der Mobilfunknutzer mehr zur Pandemiebekämpfung einzusetzen. Der DLF zitiert ein Interview des SPIEGEL mit dem Konzernchef)*, in dem dieser sagt, durch eine Ausweitung der Datennutzung könne man Rückschlüsse auf die Mobilität bestimmter Personengruppen bzw. in bestimmten Regionen ziehen. Bespielsweise ließe sich auf diese Weise verfolgen, wie sich Einreisende aus Risikoländern bewegt hätten. Aus Datenschutzgründen sei dies derzeit nicht möglich, angesichts der aktuellen Fallzahlen müsse man sich aber fragen, ob die Einschränkungen nicht aufgehoben werden müssten.

Macht dieser Herr Ametsreiter nicht einen fatalen Fehler, wenn er öffentlich solche Überlegungen ausbreitet? Wo bleibt denn da die geheime Verschwörung?

* Das ganze Interview steht leider hinter einer Paywall
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Freitag,
15. Januar 2021
Ich unterbreche meinen Winterschlaf und melde mich zurück mit dem Wunsch an die Leser und Leserinnen des Blog, ein frohes Fest und einen sogenannten guten Rutsch gehabt zu haben.

Derzeit sieht es hier im Schwarzwald so aus, als habe sich der Winter auf seine ureigene Aufgabe besonnen, nämlich die Welt in stilles Weiß zu tunken, kalt zu sein und den Kindern fröhliche Erlebnisse durch Schlittenfahren und Schneemannbauen zu bescheren. Der Winterschlaf bleibt Rentnern wie mir vorbehalten.
 
Morgendlicher Blick aus dem Schlafzimmerfenster Auf der Terrasse gegen zehn Uhr
Morgendlicher Blick aus dem Schlafzimmerfenster Auf der Terrasse gegen zehn Uhr
   
 
Aber was mich nachdenklich macht, ist die Tatsache, dass wir gerade den dritten zweistündigen Stromausfall innerhalb von 16 Stunden erlebt haben. Würden wir uns in, sagen wir, Südfrankreich oder in Italien befinden, würde ich darüber kein Wort verlieren. Da kennt man es nicht anders. Aber im deutschen Schwarzwald? Also nicht einmal mehr hier kann man mit echten winterlichen Verhältnissen umgehen. Auch eine Auswirkung des Klimawandels.
   
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